Eine Grundüberzeugung der Wikiwelt ist es, dass im
Verlauf des kollektiven kreativen Prozesses jedes nur erdenkliche Problem,
das im Wiki auftaucht, Stück für Stück korrigiert werden wird. Das
entspricht dem unumstößlichen Vertrauen, das Ultraliberale in die
Unfehlbarkeit des Marktes und Ultralinke in die Gerechtigkeit von
Konsensprozessen haben. In all diesen Fällen waren die Ergebnisse bisher
eher fragwürdig. Dazu kommt, dass Faktentreue allein noch keinen guten
Text ausmacht. Ein Text muss mehr sein als eine Ansammlung fehlerfreier
Referenzen, und zwar Ausdruck von Persönlichkeit.
Die meisten
technischen oder wissenschaftlichen Informationen, die man in der
Wikipedia findet, gab es schon im Netz, bevor Wikipedia erfunden wurde.
Mit Hilfe einer Suchmaschine bekam man zu den meisten Begriffen, die nun
wikifiziert wurden, hinreichende Auskünfte. In einigen Fällen wurden
bestimmte Texte einfach von den Seiten der Universitäten und Institute
geklont und auf Wikipediaseiten gestellt. Seitdem die meisten
Suchmaschinen eher zur wikifizierten Version als zum Original führen, hat
das Web einiges an Charakter verloren.
Nun ist Wikipedia
keinesfalls der einzige Fetisch für diesen stumpfen Kollektivismus. Im
Internet gibt es einen rasenden Wettkampf um die Position der ultimativen
¸¸Meta"-Seite. Jeder will das allerhöchste aller Aggregate sein, dem sich
sämtliche andere Seiten unterordnen müssen. Dieser Wettkampf begann ganz
unschuldig mit dem Aufbau von Onlineverzeichnissen, etwa den frühen Formen
von Yahoo oder Altavista. Bald darauf kam Google mit seinem Algorithmus
für die Rangfolge dazu, dann die Blogs und schließlich die Metablogs, wie
Boinboing, deren Inhalt ganz einfach aus dem Destillat anderer Blogs
besteht. Für alle diese Seiten trugen allerdings einer oder mehrere
Einzelne die Verantwortung.
In den vergangenen ein, zwei Jahren
ging der Trend dahin, jede Spur menschlicher Einflussnahme zu entfernen
und den Eindruck entstehen zu lassen, dass die Inhalte aus dem Netz selbst
kommen, als spräche das Web wie ein überirdisches Orakel zu uns. Das ist
der Punkt, an dem die Nutzung des Internets in den Wahnsinn abgleitet.
Kevin Kelly, Gründer der Zeitschrift Wired, der die Webseite ¸¸Cool Tools"
betreibt, hat lange über das nachgedacht, was er den ¸¸Hive Mind" nennt,
den Schwarmgeist. Neulich besprach Kelly einige ¸¸Konsenswebfilter" wie
¸¸Digg", ¸¸Reddit" und ¸¸Popurl", die täglich Material aus einer Unzahl
anderer Seiten zusammenstellen. Da gibt es keine Person mehr, die das
Material auswählt, nur einen Algorithmus.
Wie gut diese Seiten
sind? Während ich diesen Text schreibe, wurde ein neues Verfahren
gefunden, das Nervenschäden bei Diabetikern verhindert und somit Millionen
helfen kann. Die meisten traditionellen Nachrichtenmedien berichteten
gleichzeitig über das Erdbeben in Indonesien. Popurl informiert uns
dagegen darüber, dass ein Student den Rekord im simultanen Eisessen
gebrochen und dabei einen rekordverdächtigen Kältekopfschmerz
bekam.
Kevin Kelly kommt zu dem Schluss, dass solche Seiten die
beste Methode sind, um den Schwarmgeist zu beobachten, der fast immer dumm
und langweilig ist. Der wahre Wert des Internets besteht darin, dass es
Menschen miteinander verbindet. Wenn wir anfangen zu glauben, dass das
Netz ein eigenständiges Wesen darstellt, reduzieren wir diese Menschen zur
Wertlosigkeit und uns selbst zu Idioten. Erschwerend kommt hinzu, dass es
für Menschen, die schreiben und denken, keine neuen Geschäftsmodelle gibt.
Zeitungen befinden sich beispielsweise in einer Phase des Niedergangs,
während das Internet immer mehr Leser an sich bindet. In diesem Umfeld
kann Google News derzeit mehr Umsatz verbuchen und zuversichtlicher in die
Zukunft blicken als die relativ geringe Anzahl guter Reporter, die rund um
die Welt den Großteil der Inhalte produzieren. So generiert das Aggregat
mehr Wert als die Originale. Die Frage nach neuen Geschäftsmodellen für
Inhaltsproduzenten ist ein schwieriges Thema, aber man sollte zumindest
erwähnen, dass professionelles Schreiben Zeit braucht und dass die meisten
Autoren dafür bezahlt werden müssen, dass sie sich diese Zeit nehmen. In
diesem Zusammenhang kann man das Bloggen nicht als Schreiben gelten
lassen. Als Blogger reicht es, dass man den Massen nach dem Mund redet
oder Aufmerksamkeit erregt, indem man sie beschimpft.
Was wir jetzt
beobachten können, ist eine beängstigende Ausbreitung des Trugschlusses,
das Kollektiv sei unfehlbar. Davon bleiben nicht einmal
Eliteorganisationen verschont. Der Aufstieg der Wikipedia, der Reichtum
von Google und das Wettrennen zur ultimativen Metaseite haben zu einem
Goldrausch geführt, von dem schon Regierungsstellen, Universitäten und die
Planungsabteilungen von Top-Firmen angesteckt wurden.
Es ist gut zu
verstehen, was den Trugschluss des Kollektivismus für große Organisationen
so attraktiv macht: Wenn es ein unfehlbares Grundprinzip gibt, müssen die
Einzelnen keine Risiken eingehen und keine Verantwortung übernehmen. Das
passt zu den enormen Unsicherheiten und der geradezu pathologischen Angst
vor Verantwortung in unserer Zeit. Gleichzeitig müssen wir in
Institutionen funktionieren, die keiner Führungskraft mehr verpflichtet
sind. Jeder Einzelne, der Angst davor hat, innerhalb seiner Organisation
das Falsche zu sagen, kann sich deswegen immer auf der sicheren Seite
wähnen, solange er sich hinter einem Wiki oder ähnlichen Ritualen von
Meta-Aggregaten verstecken kann.
Nun ist das Kollektiv nicht von
Natur aus dumm. Weil die Höhe- und Tiefpunkte seiner Intelligenz nicht die
gleichen sind wie bei Individuen, kann es sogar sehr wertvoll sein. Wenn
man beispielsweise einen Kurswert bestimmen soll, wird das Ergebnis, das
ein Regierungsbeamter festlegt, dem Schluss, zu dem ein gut informiertes,
unabhängiges Kollektiv kommt, immer unterlegen sein. Das gilt natürlich
nicht unbegrenzt, wie uns Tulpenwahn, Dotcomblase und Y2K-Hysterie gezeigt
haben.
Die entscheidende Frage ist allerdings, in welchen Punkten
man als Einzelner klüger ist als das Kollektiv. Im Schnelldurchlauf würde
ich die Grenze zwischen effektivem Kollektivdenken und Schwachsinn wie
folgt definieren: Das Kollektiv kann immer dann Klugheit beweisen, wenn es
nicht die eigenen Fragestellungen definiert; wenn die Wertigkeit einer
Frage mit einem schlichten Endergebnis, wie einem Zahlenwert festgelegt
werden kann; und wenn das Informationssystem, welches das Kollektiv mit
Fakten versorgt, einem System der Qualitätskontrolle unterliegt, das sich
in einem hohen Maße auf Individuen stützt. Wenn nur eine dieser Vorgaben
wegfällt, wird das Kollektiv unzuverlässig. Ein Individuum entwickelt
dagegen ein Höchstmaß an Dummheit, wenn es mit umfangreichen
Machtfunktionen ausgestattet und gleichzeitig von den Folgen seiner
Handlungen abgeschirmt wird.
In der Welt vor dem Internet fand man
großartige Beispiele dafür, wie die Qualitätskontrolle von Einzelnen die
Intelligenz des Kollektivs verbessern konnte. Zum Beispiel lieferte eine
unabhängige Presse wichtige Nachrichten über Politiker von Reportern mit
starken eigenen Stimmen. Andere Autoren berichteten über Produkte. In
jedem Fall erlauben solche Journalisten dem Kollektiv, Wahl- oder
Kaufentscheidungen auf der Basis solider Information zu
treffen.
Ein Kollektiv auf Autopilot kann ein grausamer Idiot sein,
wie uns die Ausbrüche maoistisch, faschistisch oder religiös geprägter
Schwarmgeister immer wieder vorgeführt haben. Es gibt keinen Grund, warum
solche gesellschaftlichen Katastrophen in Zukunft nicht auch unter dem
Deckmantel technologischer Utopien passieren könnten. Sollten Wikis
weiterhin an Einfluss gewinnen, sollte man sie durch jene Mechanismen
verbessern, die auch schon in der Welt vor dem Internet recht gut
funktioniert haben.
Die Illusion, dass das, was wir schon haben,
gut genug ist, oder dass es lebendig ist und sich selbst richten wird, ist
die gefährlichste aller Illusionen. Wenn wir solchen Blödsinn vermeiden,
sollte es möglich sein, einen humanistischen und praktikablen Weg zu
finden, um den Wert des Kollektivs im Web zu maximieren, ohne dass wir uns
zu Idioten machen. Die beste Richtlinie dafür ist, dem Individuum den
Vorrang zu geben.
Deutsch von Andrian Kreye
Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.136, Freitag, den 16. Juni
2006
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